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Gespräch mit der Kratzdistel I

Veröffentlicht am 16.08.2020

Ute: Verehrte Cirsium vulgare,
vor einem halben Jahr haben Sie freundlicherweise zugestimmt, dass ich Sie in Ihrem Wachstum mit einer Fotodokumentation begleiten und diese auch veröffentlichen darf. Dafür möchte ich mich vielmals bedanken und jetzt noch mit Ihnen ein wenig ins Gespräch kommen.
Wie haben Sie diese vergangenen Monate erlebt?

Kratzdistel:
Nun, zunächst nennen Sie mich bitte bei meinem geläufigen Namen „Gewöhnliche Kratzdistel“, denn die botanische Bezeichnung wird schnell wieder vergessen.
Die vergangenen Monate war ich ausschließlich mit meinem Wachstum beschäftigt, hatte gelegentliche Durststrecken zu ertragen und fühlte mich einige Male von einer Maschine bedrängt, die sehr nahe an meine Wurzel rückte. Das ist bei unserer Gattung eigentlich nicht ungewöhnlich, denn wir sind weltweit als Unkrautpflanzen verpönt. Selbst ein gewisser Herr Goethe hat sich in dieser Weise in einem literarischen Werk geäußert.

Ute:
Das ist ja hochinteressant, aber ist das zugleich auch existenzgefährdend für Sie? Gibt es Orte, an denen Ihre Gattung sicher ist und ihre beachtliche Größe entwickeln kann?

Kratzdistel:
Logisch! Unsere Nachbarn sind häufig Unkrautgesellschaften aus Staudenfamilien, wir wachsen an Wegen, Uferböschungen, Schuttplätzen und auf Waldlichtungen. Dort ist der Boden ideal für uns: nährstoff-und humusreich, lehmig und locker. Dort wurzeln wir tief und können im ersten Jahr, also in der Bodenrosettenform ohne Trieb, geerntet werden. Aus Blättern, Triebspitzen, Stängeln und Blüten kann im Folgejahr je nach Vorliebe Salat, Gemüse, Vitalsaft und sogar Arzenei hergestellt werden, z.B bei Erkrankungen der Galle und Leber, auch bei Schmerzen, Husten oder zur Wundbehandlung und bei Insektenstichen.

Ute:
Das ist ja fantastisch! Jetzt bin ich aber froh, so viel Gutes von Ihnen zu hören. Sie haben mit ihrer besonderen Erscheinungsform der Blattrosette schon im letzten Herbst meine Neugier geweckt. Die äußerst kunstvolle Anordnung der Stiele in ihrer perfekten Rundung hat mich in ihren Bann gezogen und an Flechtwerke von Körben aus unseren Ausstellungen erinnert. Im Frühjahr wurden die Stiele und Blätter zu filigranen transparenten Gebilden, die emporwuchsen und zum Zeitpunkt der Eröffnung unserer Ausstellung im Mai die Gestalt eines Tannenbäumchens erreicht hatten. Dieser Vergleich ist vielleicht nicht in Ihrem Sinne, aber sehen Sie selbst:

Kratzdistel:
Aha! Dann war das die Zeit, als täglich Menschen mit Werkzeugen und diversen Kisten und Schachteln durch das große Tor hinein- und hinauseilten. Sie sprachen von einer neuen Ausstellung, die etwas mit Frauen und Technik zu tun hat. Ich war zu dieser Zeit schon mit der Bildung meiner Blütenkörbchen beschäftigt und brauchte viel Zeit für das Ausformen der lanzettlichen Blätter, das Bestücken mit Stacheln an den Spitzen und die Versteifung der Haare an der Oberseite. Die Unterseiten der Blätter sollten kurzhaarig und filzig bleiben. Das war ein anstrengender Full-Time-Job!
Da hat es mir schon gut getan, wenn eine der Museumsfrauen mir eine Kanne Wasser an die Wurzeln gegossen hat, denn von den Regenschauern kam ja die ganze Zeit kaum ein Tröpfchen bei mir an. Mein Platz hat eben Vor-und Nachteile: Zu den Vorteilen zähle ich, dass ich sehr nahe an der warmen Sandsteinmauer und am Eingangstor dieses riesigen Gebäudes stehe und nebenbei sehr viel Beachtung finde. Ach ja, gelegentlich hat mich eine Hand vorsichtig berührt, ganz zart; das hat mir immer gefallen.

Ute:
Es freut mich, dass Sie das wahrgenommen haben, verehrte Kratzdistel.
Im Museum Frauenkultur wie auch in anderen Kultureinrichtungen und im Alltag fast aller Menschen auf der Erde ereigneten sich in dieser Zeit bis dahin unvorstellbare Dinge: Eine Virus-Pandemie war ausgebrochen und forderte uns alle zu besonderen Schutzmaßnahmen heraus, um uns selbst und andere Menschen nicht anzustecken und zu gefährden. So wurde das Museum für einige Zeit geschlossen und als es Ende Mai wieder BesucherInnen empfangen durfte, mussten alle Abstand halten und Hygienevorschriften beachten.
In dieser Zeit habe ich viele Entdeckungen in der Natur gemacht und fotografisch festgehalten.
Bei Ihnen konnte ich vor Staunen meine Kamera oft nicht ruhig halten, denn Sie hatten  eines Tages Besucherinnen und Besucher in unvorstellbarer Menge: Blattläuse, Spinnen, Käfer, Wanzen und anderes Getier wanderten ohne Abstandsregeln und Mund-bzw. Freßschutz über Ihre Blätter und Stiele! Ein noch verpuppter Distelfalter hing in einer Blattachsel. Da ahnte ich, dass ich auf die erste Blüte nicht mehr lange warten musste.

Kratzdistel:
Wenn ich daran zurückdenke, war das auch für mich eine echte Herausforderung, denn ich hatte keine Ahnung, wie diese Invasion ausgehen würde. Ich blieb gelassen, denn meine ganze Konzentration galt der Produktion von Pollen in meinen Blütenkörbchen. Die haben immerhin einen Durchmesser von bis zu 4 Zentimetern und sind während der Blüte fast doppelt so breit wie der oberste Teil der Korbhülle. Ich musste mich beeilen, damit die ersten Blüten erwartungsgemäß im Juni zum Vorschein kommen konnten.

Ute:
Das hat ja auch ganz vorbildlich geklappt und ich konnte mit Freude die erste Blüte auf dem Stängel fotografieren, der sich bis über das Eingangstor reckte. Auf dem Bild scheinen sich Ihre Blätter und das distelartige Akanthusblatt in der Tornische zu grüßen. Das Akanthusornament ist von den korinthischen Kapitellen als Schmuck bis an den barocken Marstall gewandert. Schön, nicht wahr?

Kratzdistel:
Jetzt muss ich aber staunen! So viel Aufmerksamkeit habe ich nicht erwartet.
Tagein-tagaus war meine ganze Energie auf die Pollenversorgung der Hummeln und unzähligen Schwebfliegen gerichtet, die meine Samen bestäuben. Fast hätte ich die Blumen übersehen, die zu meinen Füßen in vielfältigen Farben, mit verzaubernden Düften und in verschwenderischer Fülle blühten: Funkien mit Blütenkaskaden und zwei Rosenstöcke, panaschierter Efeu bildete einen Blätterteppich, dazwischen die zartgelben Frauenmantelbüschel, die jeden Wassertropfen wie eine Perle auf ihren Samtblättern präsentieren. Spitzwegerich, Glockenblumen, Schöllkraut, Klee und sogar wilde Walderdbeeren waren zu entdecken.

Ute:
Da haben Sie aber sehr viel Abwechsung erlebt im Vergleich mit Ihren Artgenossinnen am Bahndamm. Gab es so etwas wie ein Highlight?

Kratzdistel:
0h ja! Eines Tages waren so viele Menschen auf der Wiese wie nie zuvor. Aber davon möchte ich beim nächsten Wiedersehen erzählen.

Ute:
Einverstanden. Ich bin sehr gespannt auf die Fortsetzung.

 

Gespräch mit der Kratzdistel II

© Text und Bilder von Ute Klauk, Frauen in der Einen Welt

 

 
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