Vivian Christlein - Wann ist ein Textil ein Kunstwerk? Kann ich überhaupt mit Maschinen ein Kunstwerk herstellen, das für sich alleine steht?
Veröffentlicht am 24.08.2020Trilogie "Boom 2020": Textile Farbexplosionen
Zunächst sind die Fäden in einer Tasche eingesperrt (1), dann hängen sie zwischen zwei Gewebelagen, (2) nun werden sie zur Farbexplosion befreit (3)
Nach einer Handweberausbildung - ein schönes, aber brotloses Handwerk - machte Vivian Christlein 1992 ihren Abschluss als Diplomtextildesignerin in Münchberg. Drei Jahre arbeitete sie im Modebereich, seit 1995 spezialisierte sie sich auf die Herstellung von Jacquardgeweben, entwickelte Designs für alle vorstellbaren Textilbereiche - Schals, Tischdecken, Dekostoffe, Möbelstoffe, in den letzten Jahren in einer Firma, die insbesondere schwerentflammbare Textilien für den Hotelmarkt produziert.
Persönliche Ausdrucksmöglichkeiten in der Textilindustrie sind begrenzt durch Machbarkeit, Verkaufsmöglichkeiten - den Markt. Vivian Christlein, die besonders interessiert ist an der Technik der Jacquardweberei und jahrelange Erfahrung darin hat, bewegt jedoch die Frage: Wie kann ich einen reproduzierten, maschinengesteuerten Stoff mit einem festen Rapport in der Breite, der maschinell festgelegt ist, so gestalten, dass er auf seine Weise einzigartig wird? Wie lässt sich mit einer Maschine ein Unikat, ein Kunstwerk gestalten?
Die Breite ist definiert, in der Höhe kann frei, also auch raumhoch gearbeitet werden. Im Unterschied zur Schaftweberei definiert sich die Jacquardtechnik dadurch, dass jeder einzelne Faden bewegbar ist. Vivian Christlein bearbeitet das Webstück zusätzlich durch Wegschneiden von Kette oder Schuss oder beidem, so dass Fäden oder Gewebeteile individuell bewegbar werden, herunterhängen oder Taschen bilden können.
Seit 2011 nimmt Vivian Christlein an dem jährlichen Stadtteilfestival in Berlin, „48 Stunden Neukölln“, in Berlin teil. Ausgestellt werden die Exponate in der „Föllerei“, einem kleinen Restaurant ihrer Freundin Christiane Föll. Nur für ein Wochenende und immer mit einem anderen Motto. Ihre Inspiration für die vorgegebenen Themen - die so unterschiedlich lauten wie "Schatten" - "Futur 3" - oder "Boom" - sucht sie in Fotos, fremden und eigenen, oder Zeitungsartikeln. Manchmal ist auch der Wunsch technisch etwas Neues auszuprobieren der Ausgangspunkt, und es wird direkt am Computer das Design dazu entwickelt. Dann müssten die so entwickelten Vorstellungen und Bilder mit der Technik der Maschinenweberei zusammengebracht werden: Die Größe des Werks muss an die Maschinenvorgabe angepasst werden (maximal 70 cm), die Farb- bzw. die verschiedenen Schussmaterialien werden bestimmt, maximal acht verschiedene. Die Größe und Feinheit des zukünftigen Gewebes ist natürlich abhängig von der Stärke und Dichte der eingesetzten Materialien. Dann wird das Motiv eingescannt und die Farben auf die Anzahl der gewünschten Effekte reduziert, die Bindungen - das sind die Fadenverkreuzungen von Kette und Schuss - werden konstruiert und den Farben zugewiesen. Danach kann das Muster in den Webstuhl einprogrammiert werden, gewebt, und auf Wunsch nachbehandelt werden.
Für Vivian Christlein ist das Zusammenwirken der Stoffe im Raum besonders reizvoll: Wie sich die Atmosphäre darin völlig verändert, wie sich die Stoffe im wechselnden Licht von außen, wie von innen, verändern. Es ist für sie spannend, befreiend und inspirierend zugleich, Objekte für einen bestimmten Raum zu schaffen und dabei nicht an Verkäuflichkeit oder Reproduzierbarkeit denken zu müssen.
Vivian Christlein vor „Boom“: Die Panzerknacker tanzen vor Freude, sie haben ihre Bomben durch den Stoff geworfen.
Text und Fotos: Gaby Franger, Frauen in der Einen Welt; Vivian Christlein
Copyright: Frauen in der Einen Welt und Autorinnen bzw. Fotograf*innen
Helmbrechts Ausstellung: „Experimentelle Jacquardgewebe“ ist bis Ende 2020 im Dachgeschoss des Oberfränkischen Textilmuseums zu sehen. (Helmbrechts)
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